Vom Wildfang zur Nachzucht: Mein Jahr mit seltenen Zwergbuntbarschen aus dem Amazonas

"Wenn du einen Fisch zum ersten Mal aus dem Bach ziehst, trägst du Verantwortung für sein Erbe." Das sagte mir ein brasilianischer Biologe in einem abgelegenen Flussarm des Rio Tapajós, als ich meinen ersten wildgefangenen Zwergbuntbarsch in einem provisorischen Eimer betrachtete. Und dieser Satz hat sich mir eingebrannt.

Dies ist kein technischer Beitrag. Dies ist eine Geschichte über Ethik, Überlebenskunst und die unglaubliche Vielfalt der Natur. Ich erzähle dir von meinem Jahr mit Apistogramma paulmuelleri, einem kaum erforschten Zwergbuntbarsch aus Brasilien. Ich zeige dir, was es heißt, mit Wildfängen zu arbeiten, wie man naturnahe Bedingungen schafft und warum es manchmal Monate dauert, bis ein Fisch vertraut genug ist, um sich zu zeigen.

1. Die Reise beginnt – mein erster Kontakt mit Apistogramma paulmuelleri

Ich war nie jemand, der sich für Reisen in tropische Länder begeisterte. Ich mochte gemäßigte Temperaturen, organisierte Städte, verlässliche Infrastruktur. Doch als ich 2023 die Einladung bekam, eine Expedition in die Nebenarme des Tapajós-Flusses zu begleiten – organisiert von einem befreundeten Ichthyologen – sagte ich spontan zu. Ich hatte in Foren von „neuen Apistogramma-Arten“ gelesen, von winzigen Populationen, die nur in einem bestimmten Bachabschnitt existieren. Ich war neugierig. Und etwas in mir wollte raus aus dem Kontrollierten, hinein ins Unvorhersehbare.

Die Reise war anstrengend. Flug, Bus, Boot, dann mehrere Stunden zu Fuß durch das feuchtheiße Dickicht. In einem kaum kartierten Flusslauf fanden wir schließlich, was wir suchten: winzige, hellocker gefärbte Fische mit blauer Flossenzeichnung, kaum 3,5 Zentimeter groß. „Paulmuelleri“, murmelte der Biologe, „aber vermutlich eine lokale Variante. Schau dir die Schwanzwurzel an.“

Ich fing mit einem kleinen Netz zwei Paare, setzte sie in mit Huminstoffen versetztes, sauerstoffreiches Wasser in belüftete Transportbehälter und wusste schon da: Wenn ich sie lebend nach Hause bringen sollte, würde das der Beginn einer langen, lehrreichen Reise sein.

Der Rücktransport verlief überraschend gut. Die Fische fraßen bereits am dritten Tag Tubifex in der Quarantänebox. Doch ihre Bewegungen blieben scheu, fast unsichtbar. Ich richtete ein Becken nur für sie ein – 80 Liter, Schwarzwasser, Moorkienwurzeln, Eichenlaub, Höhlen, kaum Licht. Und dann begann mein Jahr mit einer Fischart, die so viel mehr war als nur ein Tier: Sie war ein Rätsel, ein Spiegel meiner eigenen Ungeduld – und letztlich ein Schlüssel zu einer neuen Art von Zuchtverständnis.

2. Vertrauen schaffen – wie Wildfänge sich langsam öffnen

Wer einmal mit Wildfängen gearbeitet hat, weiß: Diese Tiere sind keine domestizierten Zuchtlinien. Sie reagieren nicht berechenbar, sie zeigen keine „Standardverhalten“. Sie kommen aus einer Welt voller Gefahren, Instinkte und Überlebensstrategien – und plötzlich sitzen sie in Glas, von Menschen beobachtet. Kein Wunder, dass sie sich wochenlang nicht zeigen.

Ich schaltete die Beleuchtung im Becken für die ersten 10 Tage komplett aus – nur das diffuse Licht vom Fenster reichte. Ich arbeitete mit Schwimmpflanzen (Salvinia, Limnobium), um das Licht weiter zu dämpfen. Ich legte eine dichte Struktur aus Wurzeln und Blättern, baute kleine Tunnel aus halbierten Kokosnussschalen, steckte Eichenlaub zwischen Steine. Ich wollte, dass sie sich sicher fühlen – auch wenn ich sie nicht sah.

Gefüttert wurde nur einmal am Tag. Mikrowürmchen, Essigälchen, später Artemia-Nauplien. Ich beobachtete die Wasseroberfläche – fehlten Futterreste? Dann wussten sie, dass ich sie nicht bedränge. Ich verbrachte täglich eine Stunde neben dem Becken – lesend, schreibend, niemals direkt davor. Nach drei Wochen sah ich das erste Weibchen – scheu, aber mit geöffneten Flossen. Nach fünf Wochen schwamm das Männchen offen in der unteren Beckenhälfte. Kein Zittern mehr, keine Flucht.

Und dann, nach gut zwei Monaten, begannen sie, mich zu erkennen. Ich trat ans Becken – sie kamen hervor. Nicht aus Neugier. Sondern aus Kalkül: Ich war Futterquelle. Das war der Anfang einer Beziehung.

3. Naturnahe Biotopgestaltung – das Zuhause als Zuchtimpuls

Ein Aquarium ist kein Biotop. Aber es kann biotopnah sein – wenn man bereit ist, sich vom Wunsch nach Schönheit zu verabschieden. Mein Paulmuelleri-Becken sah nicht „hübsch“ aus. Der Bodengrund bestand aus feinem, torfigem Sand, der schnell dunkel wurde. Überall lagen zerfallene Blätter, kleine Aststücke, gelegentlich ein Schleier aus Biofilm.

Ich arbeitete mit einer Mischung aus Osmosewasser und leichtem Torfauszug (selbst angesetzt, nicht chemisch). Zielwerte: KH 0–1, GH 2–3, pH zwischen 5,8 und 6,1. Ich testete nur in der ersten Zeit – danach zählte der Zustand der Fische.

Ich verzichtete auf klassischen Filterauslass. Stattdessen nutzte ich einen luftbetriebenen Hamburger Mattenfilter, versteckt in der Rückwand. Das Wasser wurde bewegt, aber kaum sichtbar. Die Oberfläche blieb ruhig. Kein CO₂ ging verloren, der Biofilm durfte sich entwickeln.

Pflanzen waren zweitrangig – aber es wuchsen Moose, etwas Najas guadalupensis, und vor allem Javafarn auf den Wurzeln. Diese Pflanzen dienten nicht dem Auge, sondern der Wasserqualität.

Ich wechselte Wasser nur alle 10 Tage – 20%, langsam eingefüllt über einen Tropfschlauch. Dabei achtete ich auf Temperaturgleichheit und keine Luftverwirbelung. Je weniger Stress, desto mehr Vertrauen.

Und siehe da: Zwei Monate nach Einrichtung zeigte das Weibchen eine intensiv zitronengelbe Bauchfärbung. Sie ließ das Männchen nahe an sich heran, schwamm nicht mehr davon. Ich wusste: Es war bald soweit. Die Biotopgestaltung hatte ihre Wirkung getan. Nicht weil sie „ausgesehen“ hatte wie in der Natur – sondern weil sie sich so anfühlte.

4. Die erste Nachzucht – ein Wunder im Schneckentempo

Ich hatte in meinem Leben schon viele Zuchtversuche gesehen: Skalare, Guppys, sogar Diskus – oft spektakulär, manchmal chaotisch. Aber was ich bei den Apistogramma paulmuelleri erlebte, war eine Lektion in Zurückhaltung.

Es begann mit einem winzigen Laichansatz an der Decke einer halbierten Kokosnusshöhle. Ich konnte ihn kaum erkennen – blass, fast durchsichtig. Das Weibchen bewachte ihn wie ein Schatten, ließ niemanden in die Nähe. Nicht einmal das Männchen. Ich reduzierte die Beleuchtung auf zwei Stunden pro Tag. Fütterung? Nur Staubfutter, per Pipette unter die Wasseroberfläche geträufelt. Kein Mulm absaugen, keine Reinigung, keine Wasserwechsel für fünf Tage.

Am sechsten Tag: Bewegung. Winzige Punkte mit Flossen, zitternd, aber aufrecht. Ich zählte zwölf Larven. Keine große Zahl – aber ein Triumph. Ich begann mit Mikrofütterung: Rädertierchen, Essigälchen, selbst gezogene Infusorien aus Bananenschale. Es war mehr Gärtnerarbeit als Zucht.

Nach zwei Wochen schwammen noch acht Jungtiere frei. Sie blieben dicht am Boden, gut getarnt. Ich setzte keine Schnecken oder Beifische ein. Keine Amanos, keine Otocinclus – nichts, was neugierig werden konnte. Das Becken wurde ein Brutkasten. Und ich der stille Beobachter.

Die Aufzucht dauerte gefühlt ewig. Erst nach sechs Wochen zeigten die Jungtiere erste Färbung. Und erst nach drei Monaten war erkennbar, wer männlich war. Ich wählte zwei Paare aus, setzte sie in neue, vorbereitete Becken um – jedes mit exakt den gleichen Wasserparametern, Pflanzen, Höhlen. Und wieder begann das Spiel von vorn.

Ein Jahr später: Ich hatte insgesamt 21 Jungfische aus drei Gelegen erfolgreich aufgezogen. Keine Massenvermehrung. Kein Absatz an Händler. Sondern gezielte, behutsame Arterhaltung. Mehr wollte ich nicht.

5. Rückschläge, Krankheitswelle und was ich daraus gelernt habe

So romantisch diese Geschichte klingt – sie war nicht frei von Rückschlägen. Im Juli kam die Hitzewelle. Trotz aller Isolierung stieg die Wassertemperatur in einem der Becken auf 30 °C. Innerhalb von 24 Stunden zeigten zwei Jungtiere Trübung der Augen, ein drittes lag bewegungslos auf dem Boden.

Ich handelte schnell: Ventilator, Kühlturm, Wasserwechsel. Doch es war zu spät. Eine bakterielle Sekundärinfektion breitete sich aus – vermutlich durch eine Kombination aus Stress und verringerter Sauerstoffsättigung. Ich verlor sechs Jungtiere in fünf Tagen.

Ich war am Boden zerstört. Wochenlange Arbeit – weg. Doch ich wollte verstehen, nicht aufgeben. Ich begann zu dokumentieren:

  • Wie lange dauerte der Temperaturanstieg?
  • Wie schnell reagierten die Tiere?
  • Welche Tiere erkrankten zuerst?
  • Gab es Unterschiede zwischen den Becken?

Meine Erkenntnisse:

  • Jungtiere unter sechs Wochen reagieren empfindlicher auf Temperaturschwankungen.
  • Becken mit höherer Laubschicht scheinen stabiler zu bleiben.
  • Eine durchströmte, aber strömungsarme Wasserführung verhindert Hitzestaus.
  • Futtermenge während Hitzetagen reduzieren: Weniger metabolischer Stress.

Ich passte mein gesamtes System an. Mehr Schatten im Raum, reflektierende Alufolie an der Fensterscheibe, nächtliche Wasserwechsel im Hochsommer, bessere Belüftung. Seitdem: keine Ausfälle mehr – auch bei 28 °C.

Fehler sind schmerzhaft. Aber sie sind die ehrlichsten Lehrer. Ich habe gelernt, dass es nicht reicht, alles „richtig“ zu machen – man muss auch vorbereitet sein auf das, was nicht planbar ist.

6. Was ich über Ethik in der Aquaristik gelernt habe

Wenn du mit Wildfängen arbeitest, ändert sich deine Perspektive. Du beginnst zu begreifen, dass jeder Fisch, den du hältst, nicht nur ein Individuum ist – sondern ein Teil eines Ökosystems, einer Evolutionslinie, eines ökologischen Gleichgewichts. Und du – mit deinem Glasbecken im Wohnzimmer – bist plötzlich Teil dieses Gleichgewichts.

Ich habe mir viele Fragen gestellt: Darf ich Fische aus dem Amazonas importieren? Was rechtfertigt diese Eingriffe? Was schulde ich den Tieren – über Pflege und Zucht hinaus?

Meine Antwort: Respekt. Achtsamkeit. Und ein kompromissloser Fokus auf Arterhaltung statt kommerzieller Zucht. Ich habe nie versucht, möglichst viele Tiere zu produzieren. Ich habe nie verkauft. Ich habe nur an andere Züchter weitergegeben, von denen ich wusste, dass sie das Erbe weitertragen würden.

Ich dokumentierte alles: Herkunft, Verhalten, Aufzuchtbedingungen, Gesundheitsverläufe. Jeder meiner Fische war Teil einer lebenden Datenbank. Kein Konsumobjekt, sondern Forschungsgegenstand – mit Persönlichkeit, mit Geschichte, mit Würde.

7. Warum kleine Populationen große Verantwortung bedeuten

Apistogramma paulmuelleri ist keine populäre Art. Kaum jemand kennt sie. Es gibt keine Zuchtlinien, keine „Fancy“-Varianten, keine Großimporte. Genau das macht sie wertvoll – und verletzlich.

Ich habe nur zwei Populationen gesehen: die im Tapajós-Arm, wo ich sie fing – und eine weitere bei einem Züchter in Norddeutschland, der sie unabhängig von mir erhalten hatte. Wir tauschten Tiere aus, dokumentierten Unterschiede. Unsere Erkenntnisse halfen dabei, die Art besser zu verstehen – und genetisch breiter zu sichern.

Wenn du mit kleinen Populationen arbeitest, musst du mehr leisten:

  • Gezielte Selektion – ohne Inzucht, ohne Überzüchtung
  • Langzeitbeobachtung statt schneller Zuchtzyklen
  • Netzwerke aufbauen – Züchter, Forscher, Halter
  • Transparenz schaffen – durch Dokumentation und Teilhabe

Ich bin kein Wissenschaftler. Aber ich kann wissenschaftlich handeln – durch Sorgfalt, Systematik und ethische Haltung. Und das gilt für jeden von uns.

Fazit: Ein Fisch als Lehrer

Dieses Jahr mit Apistogramma paulmuelleri war viel mehr als nur ein Zuchtprojekt. Es war eine Schulung in Geduld, in Demut, in Respekt vor dem Leben. Ich habe gelernt, leiser zu beobachten, vorsichtiger zu handeln und tiefer zu verstehen.

Ich bin nicht sicher, wie viele Menschen je von dieser Art hören werden. Vielleicht verschwindet sie – wie so viele unbeschriebene Wunder – irgendwann aus der Natur. Vielleicht überlebt sie in ein paar Aquarien. Vielleicht in meinem. Vielleicht in deinem.

Was ich weiß: Sie hat mich verändert. Und dafür bin ich dankbar.

Wenn du dich je entscheidest, mit Wildfängen zu arbeiten – nimm dir Zeit. Lerne. Frag. Und vor allem: Höre zu. Denn die Tiere erzählen dir alles, was du wissen musst – wenn du bereit bist, zuzuhören.

Herzlich,
Haustier Blogger

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